Gänsemarsch

Beim Wort Gänsemarsch dachte ich immer an Tiere – oder an Menschen, die einzeln hintereinander herlaufen. So ungefähr jedenfalls, denn gesehen hatte ich einen echten Gänsemarsch noch nie. Wie viele gehen da eigentlich mit? Müssen es immer Gänse sein?
Ich glaube, im Kindergarten hab ich das Wort zum ersten Mal gehört – ganz sicher bin ich mir nicht. Wir gingen damals in Zweierreihen, hielten uns brav an den Patschhändchen. Hintereinander? Nein.
Dreißig Jahre später war ich ein stattlicher Mann geworden. Meine jugendlichen Zweifel, was ein „richtiger Mann“ sei, hatte ich im Alkoholrausch gepuscht und mit Nikotin vernebelt. Das Bild des hoffnungslosen Alkoholikers entstand erst später – Ergebnis einer stillen, hartnäckigen Aufbauarbeit meines inneren Saboteurs. Irgendwann glaubte ich nicht mehr an mich – und hörte auf, mich überhaupt mit mir zu befassen.
So landete ich schließlich in dieser Heilstätte für alkoholkranke Männer. Weit weg von allem, was mir einmal etwas bedeutet hatte. Hier, im schweizerischen Aargau, wurde mir die Vergangenheit plötzlich zur Heimat. Ich wunderte mich über meine patriotischen Gedanken. Die Landschaft ähnelte unserem Alpenvorland. Die Aare durchzieht das Tal, bei Holderbank fließt sie durch einen Stausee, mäandert durch ein stilles Auengebiet.

35 Männer lebten in zwei Häusern, betreut von vier Therapeuten und einem Psychologen. Arbeitstherapie, Gemeinschaft, Landwirtschaft – das war das Konzept. Ein bunter Gemüsegarten, eingerahmt von Beerensträuchern, sorgte für die Selbstversorgung. In den Werkstätten wurden Reparaturen erledigt und neuerdings auch Spielzeug gefertigt. Es gab eine Wäscherei, eine Kartonage – dort wurden im Stücklohn Schachteln gefalzt. Besonders beliebt war die Gärtnerei, besonders bei Naturburschen. Die Küche hingegen war verpönt. Die „Tranksieder“, wie sie österreichische Patienten abschätzig nannten, mussten am meisten ran und wurden obendrein für das Essen kritisiert – zu Unrecht.
Gearbeitet wurde 40 Stunden pro Woche. Dafür gab es 90 Franken Taschengeld im Monat. Nicht viel – und so mancher Kollege versilberte ein paar Eier aus den Nestern unserer „glücklichen“ Hühner in der Ortschaft Lupfig oder im Schlossrestaurant der nahen Habsburg (Stammsitz des europäischen Fürstengeschlechts der Habsburger).
Ich schweife ab. Zurück zum Gänsemarsch.
Und dann kam Alfred. Der Landwirtschaftschef mit dem Herz eines Bauern und dem Größenwahn eines Agraringenieurs. 400 Gänse schaffte er an. 400! Anfangs niedlich wie in einem Disney-Film – weiße Wuzerln unter der Wärmelampe, schnatternd, tapsend. Und dann ging’s los. Der Gänsemarsch. Echt jetzt. Die Viecher marschierten im Gleichschritt auf die Wiese. Ich war gerührt. Und dann genervt. Denn sie schnatterten Tag und Nacht.
Die Gänse fraßen wie Weltmeister. Der Hof: vollgekackt. Grün, flüssig, überall. Wir rückten mit dem Feuerwehrschlauch aus, als wären wir bei der Straßenreinigung von Kalkutta.
Und irgendwann stellte sich dann die Frage, die keiner hören wollte: Was passiert mit den Tieren?
Alfred schwieg. Die Heimleitung auch. Man hatte gehofft, wir wären so abgestumpft, dass uns das egal wäre. War’s aber nicht. Denn siehe da: Wir, die angeblich stumpfen, gefühllosen Alkoholiker, entwickelten Empathie. Und zwar heftig. Keine Rede davon, die Gänse zu schlachten. „Nie im Leben!“, war der Schlachtruf der Gänse-AG. Ich mittendrin.
Nach diplomatischen Gesprächen mit Patientensprechern, Therapeuten und vermutlich auch dem lieben Gott wurde ein Kompromiss geschlossen: Die Gänse kamen ins Transportfahrzeug und wurden in Engelberg geschlachtet – fernab, diskret, psychologisch abgefedert. Danach wurden sie hübsch verpackt und als Martinsgänse verkauft.
Nur leider nicht in der Menge oder zu dem Preis, wie geplant. Die Rechnung ging nicht auf. Man hatte halt nicht mit unseren Gefühlen kalkuliert.
Was blieb, waren wir – enttäuscht, verletzt und voller Gänsefleisch. Wochenlang gab’s Braten. Mit Rotkraut, Maroni und dem feinen Beigeschmack von schlechtem Gewissen. Einige von uns sprachen später von kulinarischer Traumatherapie.
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