Neustart
„Früher Sonnenstrahl über dem Chärneberg – das ist die Stunde seiner Verzauberung.“
Das waren die ersten Worte, die Karlheinz Frost, mein Zimmernachbar, in gestochenem Hochdeutsch zu mir im Waschraum sagte. Das ließ mich vermuten, dass er aus deutschen Landen kam.
„Kleiner Poet, was?“, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
„Ist meiner Herkunft geschuldet – Weimar, falls dir das ein Begriff ist“, antwortete er kurz und langte im selben Moment in meinen Kulturbeutel, zog mein Pitralon Rasierwasser heraus und sagte: „Darf ich?“ Hinter ihm stand Luis Springer, mein Kollege von Zimmer 19. Er warnte mich, indem er heftig den Kopf schüttelte. Was will der Kerl? Ich riss ihm das Rasierwasser aus der Hand und verließ wütend den Waschraum. Luis Springer klärte mich draußen am Gang auf. „Ein harmloser Narr, aber er ist scharf auf den Alkohol im Rasierwasser. Pitralon mag er besonders gern. Wir Kollegen auf der Etage wissen das und sperren das Zeug weg. So ersparen wir dem Karlheinz die Psychiatrie.”

Die Küchenglocke bimmelte. Hanspeter, mein Betreuer von gestern, steckte seinen Wuschelkopf durch den Türspalt und sagte: „Zeit zum Frühstücken, ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich habe einen Bärenhunger.”
Ich sagte: „Guten Morgen” warf meine Jacke über die Schulter und folgte ihm zum Speisesaal. Ich nahm am Österreicher-Tisch Platz, wo Springer Luis, Bruno Prohaska, Wipplinger Sepp und Zoglmair Poldi mich begrüßten und über die Tischsitten informierten. Es wurde gerade über einen Spaziergang diskutiert. Ob ich denn mitkommen wolle, fragten sie. Ich lehnte ab, denn auf mich wartete das obligate Erstgespräch mit der Teamführung. Im Anschluss daran wollte Hanspeter mit mir und Melanie, einer Psychologiestudentin aus Innsbruck, die hier ein Praktikum absolvierte, eine Führung durch den Effingerhort machen.
Später musste ich zum obligaten Erstgespräch. Sechs Männer einschließlich Stiftungsrat starrten mich erwartungsvoll an. Einer fragte, warum ich hier sei. Mein alter Trotz gegen Obrigkeit schlug durch. Ich beantwortete die Frage nicht und sah demonstrativ zum Fenster hinaus. Das war doch geklärt, dachte ich, sie haben meinen Akt vor sich liegen. Wollen sie weinerliche Sündenbekenntnisse von mir hören? Sollte ich die bittere Vergangenheit herunterleiern, die ohnehin nur zu Selbstmitleid führt? Will man, dass ich mich selbst erniedrige? Wird erwartet, dass ich demütig und dankbar dieses Haus würdige, obwohl ich erst einen Tag hier bin?
Also begann ich mit dem Status quo: „Ich bin Alkoholiker und bleibe es. Hier, auf dem Trockendock, will ich die Chance nützen, trocken zu bleiben. Ich will noch mehr, ich will nüchtern werden. Darum bin ich hier. Ich weiß, dass ich mir selbst helfen muss. Mit dem Angebot des Effingerhort, der Hilfe zur Selbsthilfe, hoffe ich, es zu schaffen. In puncto Arbeitstherapie habe ich mich für die Gruppe Bau & Malerei entschieden. Ich freue mich auf die Arbeit.”
Guido Toggenburg, der Leiter des Hauses, beendete die Sitzung: „Schönes Wochenende euch allen und habt Dank für eure Worte.“
Ich grinste, denn genau genommen hatte nur ich geredet.
Das unangenehme Erstgespräch, das eigentlich der Vorstellung aller Beteiligten – Therapeuten, Patient und der Hausordnung dienen sollte, war ungeplant zu einem Fast-Monolog meinerseits ausgeartet. Als ich die Runde verließ, gab ich innerlich zu, dass meine Worte eigentlich an mich selbst gerichtet waren. Ich wollte und musste mich selbst motivieren, weil ich mich nur allzu gut kannte. Davonlaufen war immer eine Option.
Nichtsdestotrotz blieben ein paar Punkte aus der vom Leiter zitierten Hausordnung hängen: Die ersten vier Wochen kein alleiniger Ausgang, Rauchverbot in den Zimmern, Essenszeiten obligat und kontrollierter Zapfenstreich. Das Positive: Die Arbeitstherapie ist zwar unbezahlt, aber es gibt monatlich neunzig Franken Taschengeld. Nach sechs Monaten rückfallfreier Zeit besteht die Möglichkeit, sich in der Umgebung einen Job zu suchen. Der Lohn kommt auf ein Konto und dient als Startgeld für die Zeit nach der Kur. Das hörte sich nach einem erreichbaren Ziel an.
Seit meinem Klinikaufenthalt in Salzburg war mein Kopf immer klarer geworden. Mit Freude stellte ich fest, dass meine vitale Konstitution voll zurück war. Immer mehr spürte ich, dass die Lust am Lernen zurückkam. Vielleicht war es auch dieser Rückzugsort mitten im Grünland, der meine zerstört geglaubten Gehirnzellen ankurbelte. Plötzlich sah ich die Natur mit anderen Augen, viel intensiver. Früher sah ich den Wald - jetzt waren es Bäume, Blüten, Zweige. Ob das mit den grauen oder weißen Gehirnzellen zu tun hat? Egal. In diesem Moment genügte mir, dass ich zwischen Gefühl und Verstand wechseln konnte.

Es war noch immer Sonntag. Alles kehrte wieder; der Frühling mit all seinen Blumen, dem Maigrün und seinen Düften. Mein neues Leben begann auch mit neuem Sehen.
Die weiß getünchten Außenmauern des Haupthauses verbreiteten ein Ambiente des Friedens, genau wie die beiden turmartigen Erker, die das Haus links und rechts begrenzten. Die aufsteigende Sonne zauberte ein Glitzern in den Morgentau. Die Wiesen auf der Schattenseite leuchteten in beinahe unwirklichem Grün. Nur der weithin sichtbar dampfende Meiler des Atomkraftwerks Gössgen macht ein klein wenig Angst. Vom Garten her klang das linde Träufeln des Brunnens am Kastanienbaum. Was für ein Tag!
Und doch war die Luft voller Ahnungen, schien das Idyll mir trügerisch. Womit hatte ich das verdient? War ich zu sehr Romantiker? Sollte ich nicht auf Verstand umschalten? Irgendwelche Weltformeln aus mir heraus quellen lassen, die mir helfen würden, irgendwann mit dem Leben, das dunkel hinter mir lag, fertig zu werden? So sehr ich auch rätselte, ich konnte nicht sagen, ob die Ahnungen mich aus der Vergangenheit heraus berührten oder ob es eine auf die Zukunft gerichtete abstrakte Furcht vor dem neuen Leben war. „Ach was”, sagte ich zu mir, „es kommt sowieso wie es kommt. Morgen ist mein erster Arbeitstag. Zoglmair Poldi und ich beginnen mit der Sanierung der alten Hofbäckerei.“
Vor dem Einschlafen hatte ich einen Satz Charles Bukowskis in mein Tagebuch notiert: „Ich wundere mich, wie mühelos vielen ihr Leben misslingt.”
Dieser Satz gefiel mir. Ich fühlte mich angesprochen und festigte zugleich meinen Vorsatz: „Das Dahintrödeln muss ebenso aufhören wie das Suchen nach Schuldigen. Ich werde lernen, das Wichtige vom Idiotischen zu trennen. Mein neues Rauschmittel heißt: Leben - mit einer Brise Verrücktheit, viel Heiterkeit und Tiefe.
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