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Opa Blue

Opa Blue

Zwei Monate nach unserer zündenden Idee hielten wir stolz die Erstausgabe der „Seiten:Blicke” in Händen – das Produkt nächtelanger Diskussionen über den Titel. Zunächst war unser Titelfavorit „Let it be”, eine Anlehnung an den Beatles-Song, der uns alle verband. Leider war das aus rechtlichen Gründen nicht möglich.

Die Finanzierung stemmten wir auf privater Basis. Beni Hug reaktivierte alte Kontakte im Papierhandel, und bei einer Auflage von 200 Stück pro Quartal hielten sich die Druckkosten in Grenzen. Die Beiträge stammten ausschließlich von Bewohnern und Mitarbeitenden des Effingerhort. Beat Sutter übernahm kostenlos das Lektorat, Beni zeichnete für Layout und Druck verantwortlich. Inhaltlich standen die Autoren für ihre Texte gerade. Natürlich bekam Guido Toggenburg, unser Heimleiter, ein Testexemplar – alles Roger.

Die erste veröffentlichte Geschichte stammte von „Opa Blue“. Wir hatten ihm diesen Namen gegeben, weil er älter war als der Durchschnitt hier im Haus. Eigentlich sollte sein Text „Novemberblues“ heißen, doch weil er trotz Schwermut hoffnungsvoll endete, einigten wir uns auf „Flohmarkt der Gefühle“.
Ich hatte Opa Blue im Kantonsspital besucht. Seine Leber war am Ende, eine Operation unausweichlich. Über das, was geschah, konnte oder wollte er nicht sprechen. Ein Pfleger berichtete ihm später, was er unter Narkose geplappert hatte – ein Sammelsurium aus Träumen, Sehnsüchten und Unsinn.
Ich sagte: „Das würde mich interessieren.“ Er grinste schief. „Ich bringe es zu Papier. Oder noch besser: Schreib du’s, wir feilen gemeinsam daran für unsere Zeitung. Bist du dabei?“
„Das kommt jetzt schnell“, sagte er. „Aber warum nicht? Ich denk drüber nach.“ Zwei Wochen später, zurück im Effingerhort, überreichte er mir ein handgeschriebenes Manuskript. Hier ist es:
Lieber Ferdinand,
um deiner Bitte nachzukommen, schreibe ich dir diese Geschichte. Ich bin ein alter Mann und werde nicht mehr lange leben. Aber Wünsche habe ich noch. Angeblich habe ich – betäubt und verängstigt vor der OP – Dinge gesagt, die ich sonst nur im Suff äußerte. Meine Fantasie kannte unter Alkohol keine Zügel. Nun bin ich nüchtern, aber die Sehnsüchte sind geblieben.
Ich wünsche mir vom Rest meines Lebens die Erfüllung meiner Ideale. Ich wünsche mir, dass das Leben ein Wunschkonzert ist, in dem mein Wunsch Befehl hat. Dass Wunschdenken keine Zeitverschwendung ist. Dass gute Wünsche in Erfüllung gehen. Dass meine Träume mehr sind als bloße Gedanken.
Ich wünsche mir einen Winter mit langen Sonnentagen. Einen November ohne Nebel. Eine Welt ohne Krieg, in der Geld keine Macht hat und die Großen verlieren. Eine Liebe ohne Besitzansprüche. Ein Leben ohne Ablaufdatum. Eine Menschheit, die sich nicht verflucht. Witze ohne schlechte Pointen. Ehrliche Politiker ohne Krawatten. Getränke, die nicht süchtig machen. Eine Gesellschaft, die sich durch Liebe regiert. Und dass alles gut wird.
„Du hast noch viel vor, Opa Blue“, sagte ich.
„Natürlich“, erwiderte er. „Ich werde auf den Marktplatz gehen und einen Flohmarkt der Gefühle eröffnen. Ich werde vergangene Zeit verkaufen und Liebe – originalverpackt. Ich habe Zärtlichkeit im Angebot. Emotionen im Dutzend. Den Ausverkauf der Trauer. Illusionen zum Kilopreis. Alte Sehnsüchte? Gerne! Versäumte Chancen – drei zum Preis von zwei. Wer hat noch nicht, wer will noch mal?“

Autor: Feierabend-Mitglied

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