Pikanter Vorfall
Nur von Erfolg zu sprechen, wäre ein Zerrbild unseres Hauses. Der Effingerhort spiegelte die Gesellschaft wider, in all ihrer Widersprüchlichkeit. Die Bewohner stammten aus verschiedensten sozialen Schichten. Was uns verband, war die Abhängigkeit von der Volksdroge Alkohol. Jeder trug seinen eigenen inneren Hasardeur mit sich herum. Um Abstürze zu verhindern, spannte man hier ein Sicherheitsnetz – nicht immer freiwillig angenommen. Äußerlich passte man sich an, saß in Gruppentherapien, nickte in Einzelgesprächen – innerlich blieb man oft in Opposition.

Es geschah nichts Schwerwiegendes im Haus, doch ein Vorfall war delikat, und ich war – ohne eigenes Zutun – mittendrin. In der hauseigenen Mosterei arbeitete Toni Vogl. Als Sohn eines Landwirts wusste er, wie man aus Äpfeln und Birnen köstlichen Süßmost herstellt. Dass dieser Most mit wenig Aufwand zu alkoholischem Gärmost wird, war bekannt – aber niemand hätte Toni, dem kreuzbraven Bauernbub, zugetraut, dass er eine kleine Trinkergemeinschaft um sich geschart hatte. Einer von ihnen war Heinz, mein Zimmernachbar. Er verplapperte sich im Rausch. Nun stand ich zwischen Freundschaft und Verantwortung. Das Therapeutenteam hatte mich längst zum Vorzeigepatienten erklärt. Ich wollte meine Integrität nicht verlieren – aber auch nicht als Verräter dastehen.
Also entschied ich mich für eine List. In einer beiläufigen Runde beim Mittagessen erwähnte ich, dass demnächst eine Kontrolle des Lebensmittelinspektorats anstehe. Für die Küchenbrigade war das Routine – für Toni ein Schock. „Was wird da alles überprüft?“, fragte er. Ich zuckte mit den Schultern. „Alles, was mit Lebensmitteln zu tun hat – auch die Mosterei.“
Sein Blick verriet mehr als Worte. Ich wusste: Er würde seine Aktivitäten zumindest pausieren. Für den Moment war mein Gewissen beruhigt.
Kurz darauf erschien Beat Sutter erneut im Haus – Journalist beim Aargauer Anzeiger. Ich kannte ihn von der Einweihung der Mehrzweckhalle, über die er berichtet hatte. Der Artikel war mir zu oberflächlich gewesen. Jetzt erklärte er mir bei einer Tasse Café crème, dass er diesmal näher an die Menschen heranwolle. Mir fiel ein Stein vom Herzen – ich musste ihn also nicht kritisieren.
Guido Toggenburg, der Heimleiter, stieß zu uns, ebenso Hanspeter, unser Therapeut, und Beni Hug. Sie erklärten, dass sich außer mir und Helmut Pohl kein Bewohner für ein Interview gemeldet hatte. „Vielleicht liegt’s daran, dass wir Österreicher sind“, sagte ich. „Wir haben hier kaum Kontakte. Die Schweizer Patienten fürchten um ihre Anonymität.“
„Verständlich“, sagte Beat. „Vertrauen ist entscheidend. Wie wäre es, Herr Ferdinand, wenn Sie eine Art Mittelsmann würden?“
„Spitzel meinen Sie!“, fuhr ich ihn an.
„Nein, nein“, beeilte er sich. „Ich dachte an kleine Geschichten aus dem Haus. Episoden. Gerne anonymisiert. Vielleicht als Glosse in unserer Zeitung – falls die Redaktion mitspielt.“
Jetzt mischte sich Beni ein. „Warum nicht Gedichte oder Vignetten? Ich drucke bereits kleine Gedichte eines Bewohners – auf Büttenpapier, mit Bleisatz. Eine schöne Tradition.“
Beni war ein besonderer Mensch. Sozialarbeiter, gelernter Schriftsetzer, über fünfzig – und arbeitslos, bevor er samt einer ausrangierten Offsetmaschine im Effingerhort landete. Er war Allrounder: Chauffeur mit dem VW-Bus, Techniker für alles, und Drucker mit Herzblut. Im Lagerraum neben der Lingerie stand sein schwarzes Ungetüm – die Druckmaschine. Es war mein liebster Ort für Gespräche mit ihm. Eines Tages schenkte er mir zwei gotische Bleibuchstaben: F und P. „Für deinen Briefkopf“, sagte er.
Beat war skeptisch gegenüber der Druckidee – aber das störte uns nicht. Wir verabschiedeten uns und verschwanden in die „Druckerei“, wie wir den Abstellraum nun nannten. Die Idee einer Hauszeitung ließ uns nicht mehr los. Ein paar Tage später trugen wir sie in die nächste Teamsitzung.
„Wir – Beni Hug, Hanspeter, Helmut Pohl und ich – möchten eine Hauszeitung gründen. Mit Gedichten, Glossen, kleinen Geschichten.“
Peng. Das saß.

Artikel Teilen
Artikel kommentieren