Rudi Rammler
Hansruedi war ein Kollege aus meiner Arbeitsgruppe – einer, der das Leben mochte. Und die Frauen. No-na, wie der Österreicher sagt: natürlich, eh klar!
Außerdem liebte er Comics. Am meisten Rudi Rammler, eine Hasenfigur, die in der Neuen Revue Woche für Woche mit frivolen Sprüchen und einem frechen Zwinkern auftrat. Dieser gezeichnete Playboy mit Langohr war so charmant, dass ihm niemand böse sein konnte.

Hansruedis Geburtstag stand vor der Tür. Wir saßen in der Schreinerei auf der Hobelbank und diskutierten, was wir ihm schenken könnten.
„Wie wär’s mit einem fetzigen Bild vom Rudi Rammler?“, fragte Luis Springer.
„Warum nicht?“, sagte ich.
Die nächste Frage war: Wer malt? Worauf? Keilrahmen hatten wir nicht.
Wipplinger Sepp, der Tischler unter uns, fischte hinter der Bandsäge eine Spanplatte im A3-Format hervor.
„Groß genug?“, fragte er und sah mich an.
„Soll das heißen, ich soll’s machen?“
„Eh klar! Ich hab den Löwenkopf gesehen, der bei dir an der Wand hängt – der ist doch von dir?“
Ich nickte.
„Der Ferdinand macht das“, sagte Poldi Zoglmair und klopfte mir auf die Schulter. „Ich besorg die Acrylfarben. Auf geht’s, Burschen, die Zeit drängt!“
So war ich zum Rammler-Porträtisten ernannt. Ich stürzte mich in die Arbeit wie ein Besessener – und hatte Spaß daran. Es war neu für mich.
Die aktuelle Neue Revue war schnell organisiert. Ich nutzte das Rasterverfahren, übertrug die Figur auf Transparentpapier, vergrößerte sie, passte an. Voilà.
Poldi grundierte die Spanplatte fachgerecht, damit sie sich nicht verzog. Am nächsten Tag hatten wir drei Tafeln mit sanften Pastellverläufen als Hintergrund. Gemeinsam pausten wir die Konturen der Figur mit Hilfe der Schablone auf die Tafeln. Der Rohentwurf stand. Ich nahm die Bilder mit aufs Zimmer. Jetzt begann die Feinarbeit – und dafür brauchte ich Ruhe.
Am nächsten Morgen lagen drei Varianten des Rammlers vor mir. Zunächst nur in Kohlestift – aber es sah nicht schlecht aus.
„Farbe bringt Farbe ins Leben“, dachte ich. Galt auch für Rudi Rammler.
Zuerst hatte ich ihm die Löffel brav und aufrecht gezeichnet – zu zahm. Also knickte ich ihm ein Ohr. Zack – der freche Tatsch war da.
Die indigoblaue Latzhose kombinierte ich mit bunten Shirts: rot, orange, gelb, grün. In der frechsten Version bekam mein Rammler pinke Jeans und violette Ohren – zum Anbeißen. Ein Charmeur im Erotik-Format.
Das Geburtstagskomitee war höchst zufrieden. Am Sonntag übergaben wir dem gut gelaunten Hansruedi sein Geschenk im Aufenthaltsraum.
Seine Cousine war mit ihren beiden Kindern aus dem nahen Gränichen gekommen. Die drei bestaunten das Bild – fast ein wenig neidisch.
Nach der Feier nahm mich die Cousine zur Seite.
„Würden Sie für meine Kinder auch so einen lustigen Hasen malen?“
Ich holte die beiden anderen Bilder aus meinem Zimmer – die Kinder jubelten.
„Jetzt ist der Moment gekommen, an dem wir reden müssen, Herr Ferdinand“, sagte sie und steckte mir verstohlen einen Fünfziger in die Seitentasche.
Sie stellte sich als Rosemarie S. vor, arbeitete beim kantonalen Sozialdienst in Aarau und war mit dem Effingerhort freundschaftlich und beruflich verbunden.
Sie erzählte, dass sie Mitglied bei der Guttemplergruppe „Liebegg“ in Gränichen sei – einem Verein, der auch ein Laientheater betreibt. Im Herbst sei eine Aufführung zur Eröffnung der neuen Mehrzweckhalle hier am Chärneberg geplant.
„Ja, und?“, fragte ich zu schnell und biss mir auf die Lippe.
„Nun ja … Sie zeichnen doch so gut. Ich dachte, vielleicht könnten Sie …“
Sie stockte kurz, holte Luft.
„Wir haben eine Bühne im Pfarrhof von Gränichen. Da lagern auch unsere Kulissen. Die sind groß und empfindlich – nicht transportabel.“
„Und Sie meinen, ich könnte ...?“
„Ich bin sicher, das interessiert Sie, Herr Ferdinand.“
„Vielleicht. Aber ich habe keine Ahnung von Bühnenbildern.“
„Ich lade Sie ein. Kommen Sie zu unserer nächsten Vorstellung, lernen Sie unser Ensemble kennen. Dann sehen Sie selbst.“
Ich zögerte.
„Ob das Herrn Toggenburg gefällt, ist eine andere Sache. Ich bin schließlich Patient hier.“
„Ach, machen Sie sich keine Sorgen. Mit Guido – ich meine, mit Herrn Toggenburg – komme ich schon klar. Das ist ja auch in seinem Sinn.“
Zwei Wochen später war ich im Pfarrsaal von Gränichen, bei einer Vorstellung der Theatergruppe „Liebegg“.
Ich hatte mich nicht lange bitten lassen – vor allem, nachdem auch der Leiter des Hauses seinen Segen gegeben hatte.
Was dann kam, war der Anfang einer wunderbaren Zeit.
Ich stand auf dem Gerüst vor einer vier Meter hohen Kulissenwand, zeichnete eine Alpenlandschaft mit allem Drum und Dran. Als Vorlage dienten mir Skizzenblätter im A4-Format. Um die Perspektive abzustimmen, stieg ich immer wieder runter in den Zuschauerraum, sah mir das Ganze aus der Ferne an, korrigierte.
Der Regisseur – Rosemarie in Person – hatte kaum etwas auszusetzen.
„D’Prüfig isch glunge“, sagte sie im breiten Schwyzerdütsch und grinste.
Die Aufführung wurde gefeiert – über hundert Besucher klatschten begeistert.
Der Stiftungsrat war angetan, lobte die Organisation. Ich wurde zur nächsten Teamsitzung eingeladen.
Sechs Monate war ich nun trocken. Ohne Rückfall. Ich durfte laut Hausstatuten anfangen, mir einen Job in der freien Wirtschaft zu suchen.
Doch als Fliesenleger ohne Führerschein war ich chancenlos. Ich war niedergeschlagen. Und das blieb nicht unbemerkt.
Hinter meinem Rücken hatte die Teamleitung mit dem Stiftungsrat gesprochen.
Und dann kam dieser Moment, den ich nie vergessen werde.
„Herr Ferdinand“, sagte der Leiter des Hauses, „wir haben beschlossen, Sie als Haushandwerker im Rang eines Arbeitstherapeuten einzustellen – weiterhin im Patientenstatus, aber mit vollem Lohn.
Für Sie ändert sich nur eines: Ab jetzt wird Ihr Gehalt auf ein eigenes Konto überwiesen. Am Ende Ihrer Kur steht Ihnen das angesparte Geld als Starthilfe zur Verfügung.
Außerdem – wenn Sie möchten – reservieren wir Ihnen einen Platz im Abendkurs der Sozialschule Luzern. Sind Sie einverstanden? Dann unterschreiben Sie bitte hier.“
Ich war sprachlos. So ernsthaft hatte ich unseren „Häuptling“ noch nie erlebt. Natürlich unterschrieb ich.
Erst in meinem Zimmer kam alles bei mir an.
Soweit ich wusste, war das in der Geschichte dieses Hauses ein einmaliger Vorgang.
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