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Salto Vitale

Arztgespräch

Es begann vor Monaten, als mir eine wenig einfühlsame Ärztin die vorläufige Diagnose stellte. „Schaut krebsig aus, könnte aber auch „nur” eine Lungen-Tbc sein“, schleuderte sie mir ins Gesicht. Ein Blick auf meine Krankenakte aus der Psychosomatik hätte genügt, um zu erkennen, dass sie einen Alkoholiker vor sich hatte. Vielleicht mochte sie keine Abhängigen – auch nicht solche, die fest entschlossen waren, ihre Sucht zu besiegen.

Ein CT widerlegte den Krebsverdacht, doch die Kavernen in meiner Lunge blieben. Zum Glück noch nicht offen und ansteckend. Eine Bakterienkultur wurde angesetzt. Nach längerer Zeit zeigte sie, dass eine latente Lungentuberkulose zu einer offenen, infektiösen Form übergegangen war. Sofortige Einweisung in die Salzburger Landeskrankenanstalten.

Am Montag, den 4. Januar 1982, saß ich im Zug von Zürich nach Österreich, die Ankunft um 16 Uhr im sogenannten „Lungenstöckl“ des Landeskrankenhauses. Ein Mund-Nasen-Schutz wurde mir ausgehändigt. Beim Gespräch mit Dr. Wutz, dem Stationsarzt, wurde langsam klar, was mich erwartete. „Tuberkulose ist eine schwere Krankheit, aber dank Streptomycin in den meisten Fällen heilbar. Es tut nicht weh, aber es kann dauern.“
„Wie lange?“
„Eine Kur, täglich drei Spritzen, dauert fünf Wochen. Wenn bis dahin die Blutsenkung auf Null ist, ist alles gut. Wenn nicht, folgt eine zweite Kur. Also stellen Sie sich auf Geduld ein.“
„Und wenn die erste Kur erfolgreich ist?“
„Dann geht’s zur Nachsorge nach Grafenhof in Sankt Veit.“ Ich war sprachlos. Gelähmt.

Eine Schwester führte mich in das Krankenzimmer. Vier Männer und ein fast noch Kind (14 Jahre alt) empfingen mich mit neugierigen Blicken. Ich, entgegen meiner Art, schwieg. Zu sehr hatte mich die Schilderung des Arztes entmutigt. Wenn das eintrifft, was er prophezeit hatte, dann war meine Zeit in der Schweiz vorbei – und mit ihr all meine Pläne. Ich wollte die Sozialschule in Effingerhort besuchen, Ergotherapeut werden.

In der Nacht begann ich nachzudenken. Es war vielleicht Selbstschutz, dass ich an die Worte von Dr. Wutz glaubte. Fünf Wochen, um die Kavernen zu schließen, den Tuberkel-Bazillus zu isolieren. Ich hatte in unzähligen Psychotherapiesitzungen gelernt, das Positive ans Ende meiner Einschlafgedanken zu setzen. Es half auch diesmal.

Am nächsten Morgen, als der starke Wind die Äste von den Bäumen wehte und der Schnee in Flocken fiel, begann der Tag. Ein klapperndes Geräusch aus dem Gang kündigte das Frühstück an. Als die Schwester mit „Guten Morgen! Frühstück, meine Herren!“ hereinkam, hatte ich die Tafel mit der Aufschrift „Nüchtern“ übersehen. Der Tag begann mit der ersten Streptomycin-Spritze, der ersten von vielen.

Nach der Blutabnahme brachte mich ein Pfleger in die Röntgenologie. Schichtröntgen. Später, bei der Visite, durchstreiften Dr. Wutz und seine Assistenten die Bettenreihe. Bei mir blieben sie nur kurz stehen und fragten, wie es mir ging. Bevor ich antworten konnte, rauschten sie schon weiter. „Das ist der Alltag hier“, sagte einer der Mitpatienten. „Nicht gerade abwechslungsreich.“

Ich hatte in den Monaten der Abstinenz gelernt, Gelassenheit zu entwickeln. Das kam mir jetzt zugute. Dr. Wutz hatte von Geduld gesprochen, und ich dachte an Malen und Schreiben. Schreiben war mein Ding, aber für Malen fehlte mir das Werkzeug. Bis Freitag, als mein Freund Bruno Dangl Aquarellfarben, Wachskreiden und einen Block mitbrachte. Am Sonntag kamen Ilse, Erni und Inge – meine Engel von der Telefonseelsorge. Sie wollten ihren „Problemfall“ Ferdinand besuchen. Ich war hocherfreut.

Die Wochen vergingen wie im Flug. In den Ärztezimmern und Schwesternstationen hingen jetzt meine Aquarelle. Ein Hase namens Rudi Rammler, diesmal mit Stethoskop und Rotes Kreuz auf der Jeans-Latzhose.
Ich streifte oft durch die Gänge, spähte ins Labor, wo unsere Blutsenkungen in transparenten Plastikschläuchen hingen. An der Skala konnte man ablesen, wie weit die Senkung vorangeschritten war. Manchmal bewegte sich nichts. Doch nach der vierten Woche kam endlich Bewegung. „Acht!“ rief Schwester Agnes. Es könnte sich ausgehen. Selten habe ich so intensiv gebetet wie in dieser Woche.
Zwei Tage vor Abschluss der Therapie stand die Blutsenkung auf Null. Ich hatte es geschafft.
Zwei Tage noch bis zur Abschlußvisite, dann geht’s zurück in die Schweiz.

Helmut Pohl, unser Dichter im Effingerhort, klang am Telefon besorgt. Die Freizeitgruppe sei ohne meine Mitwirkung am Einschlafen, sagte er, und auch die Beiträge für unsere Hauszeitung dümpelten vor sich hin. Im Trockendock am Chärneberg herrschte Flaute.
„Hast du eine Idee, wie wir den Leuten einen Schubs geben könnten?“
Oh ja, ich hatte – und ich wollte.

Allein im Zug, von Salzburg nach Wildegg (AG), wurde die Fahrzeit von sieben Stunden zu meiner Werkstatt. Andere mögen Einsamkeit im Abteil als öde empfinden – für mich war es ein Geschenk. Ich schrieb an einem Artikel für unsere Hauszeitung.
In meinem Kopf schwirrten Textgedanken, manch einer hätte es wohl manisch genannt. Aber es war Lebenslust, pure Lebenslust, die ich hinaus wollte in die Welt. Grenzen gab es freilich auch: Mein Anspruch überstieg noch immer mein Können.

Im Krankenhaus hatte ich Zeit gehabt, meine Bildungslücken zu schließen. Eine kleine Bibliothek im Ärztezimmer war mir Fundgrube und Zuflucht gewesen. Beim „Spieler“ von Dostojewski und Büchners „Lenz“ blieb ich hängen – ihre Metaphern zogen mich in Bann. Ich wurde zum Grenzgänger zwischen Wirklichkeit und Magie.
Einen Satz nahm ich mir mit wie einen Schatz:
Für mich bedeutet die Kunst des Schreibens einen Salto vitale hinaus aus erlebter Ausweglosigkeit.

Ankunft am Bahnhof

Am Bahnhof in Wildegg erwartete mich Beni Hug, unser Meister an der Druckmaschine. Zwei Praktiker, die sich verstanden – er in seiner Welt, ich in meiner. Und trotzdem sprachen wir dieselbe Sprache. Was ich ersann, brachte er in Form.
„Hast du was?“, fragte Beni.
„Ja – Hunger“, sagte ich.
Er grinste, gab mir einen freundschaftlichen Ellbogenstoß, und wir stiegen in den Bulli. Zehn Minuten später hatte mich der Effingerhort wieder.
Noch im Auto reichte ich ihm meine Texte. Nach herzlicher Begrüßung aller Anwesenden verzog sich Beni sofort ins Büro, um meine Handschrift auf der Schreibmaschine abzutippen.
„Wir sehen uns beim Nachtessen“, rief er noch.

„Schön, Sie wieder bei uns zu haben!“, sagte Frau Ursula, die Ehefrau unseres Chefs Guido Toggenburg.
Die Kollegen dankten mir verschmitzt für einen arbeitsfreien Tag.
„Wieso freier Tag?“
„Reihenuntersuchung! Wegen dir – Angst vor Tuberkulose.“
Das traf mich. „Das wollte ich nicht“, murmelte ich. Damals wusste ich es ja selbst nicht besser.
Beim Abendessen präsentierte mir Beni die getippten Texte.
„Nicht schlecht“, sagte er. „Wusste gar nicht, dass du Balladen schreibst. Die Trinkerballade gefällt mir.“
„Ich auch nicht. Sie kam einfach aus dem Bauch.“
„Die besten Texte kommen immer von da.“

Er gab die Blätter an Beat Sutter zur Durchsicht weiter. Da trat Herr Toggenburg hinzu, schüttelte mir die Hand – und schnappte sich neugierig die Texte.

Er las meine ‚Trinkerballade’.
"Getrieben vom ewigen Verlangen nach dem Stoff seiner Träume.
Sein Elixier: hochprozentig.
Der Körper schrie nach immer mehr.
Vom Dämon Alkohol längst besiegt, stürzte er tiefer und tiefer.
Die Gesellschaft: verständnislos. Kein Platz für Verlierer.
Man stellte ihn an den Rand, verachtete ihn, den willenlosen Trinker.
Einsam geworden, verlor er den Kampf.
Die Sicht zur Wahrheit war verstellt.
Alkohol bestimmte sein Denken, lähmte seinen Verstand, führte ihn ins Dickicht wirrer Gedanken.
Im Rausch der Verzweiflung verlor sich seine Spur.
Ganz unten trafen ihn die hämischen Blicke von oben.
Fragmente unerfüllter Träume lagen im Schatten der Welt.
Und doch – ein Samenkorn keimte.
Ein Wille regte sich: Weg aus dem Irrgarten der Sucht.
Immer wieder versuchte er, sich zu befreien – vergeblich.
Es fehlte die Kraft.
Er wähnte sich wie eine Pflanze im Dunkel lichtfressender Kronen.
Doch dann: Ein Blick nach oben.
Zarte Triebe kletterten zum Licht, klammerten sich an mächtige Stämme, schwangen im Wind.
Manche zerbrachen, aber manche blieben.
Ein Sonnenstrahl fiel durchs Dickicht.
Zartes Licht. Wärmende Kraft.
Mut keimte auf.
Heraus aus den sauren Gründen – hinauf ins Leben.
Der Aufstieg begann.
Frei von Fuselduft und falschen Freunden.
Wider alle Zweifel.
Der Wind wehte frisch da oben.
Es roch nach Freiheit.
Er wusste: Er brauchte festen Stand, um das Leben dauerhaft genießen zu können.
Und er glaubte wieder an sich.
Denn die Sonne scheint auch für Verlierer."

Guido Toggenburg klappte das Blatt zu.
„Jetzt wird mir klar“, sagte er. „Woher Sie diese innere Stärke nehmen. Sie haben Ihren Seelenfreund gefunden, Ihr Alter Ego. Respekt!“

Autor: Feierabend-Mitglied

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