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Esel

Noch nicht gezähmt!

Eines Tages entdeckte Renate beim Einkaufen in einem Laden einen riesigen Stofftier-Esel! Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie stand davor und streichelte ihn unentwegt. Sie sprach zu ihm. Der Blick auf das Preisschild ließ sie zusammenzucken. Zweihundert Euro stand dort, bescheiden und in dünner Schrift. Für Renate viel Geld, zuviel Geld. Aber das Bild dieses Stofftieres ließ die Frau nicht mehr los.

Viele Besuche folgten, bei denen sie IHREN Liebling mit liebevollen Blicken verschlang. Vielleicht hatten die Besitzer des Ladens ein Einsehen und sie bekam das ‚Tier’ geschenkt? Aber nichts dergleichen geschah. Renate übte sich im Sparen und als sie das Geld beisammen hatte, machte sie sich auf den Weg. Bange Gedanken plagten sie, ob ihr Esel wohl noch dort war?

Hastig betrat sie den Kaufladen und ... ein befreites Aufatmen. Überglücklich nahm sie das Stofftier in den Arm und wanderte mit ihm zur Kasse. Natürlich versuchte sie zu handeln. Das Tier saß doch monatelang dort im Regal, sicher bereits verstaubt. Aber es gab kein Erbarmen. Renate musste zweihundert Euro dafür klönen.

Mit dem riesigen Gebilde im Arm verließ sie das Geschäft. Unterwegs erstaunte Blicke vieler Passanten, manche schmunzelten, andere schüttelten den Kopf. Renates glücklicher Gesichtausdruck und das Leuchten ihrer Augen veranlasste einige Menschen zu spontanen Äußerungen. „Warum reiten sie nicht?“ hieß nur eine davon. „Er ist noch nicht gezähmt!“, erfolgte Renates spontane Erwiderung.

Noch mit vielen Personen durfte die Frau sprechen, die durch diese Glückseligkeit angesteckt ebenfalls mit einem Lächeln im Gesicht weitergingen. Renate verstaute das gigantische Tier auf dem Rücksitz ihres Autos und fuhr heim. Glück hatte sie an einer Ampel, die sie durch Unachtsamkeit eben noch bei ‚hellrot’ passieren konnte.

Zu Hause transportiere sie ihren riesenhaften Esel atemlos das Treppenhaus in ihre Wohnung.
Moritz der kleine Mitbewohner, ein Zwergschnauzer, beäugte den neuen Rivalen argwöhnisch, der nun neben dem Sofa sitzen durfte. Sofort sprang er zu seinem Frauchen und legte seinen Kopf auf deren Schoß, was sicher heißen sollte: „Dieser Platz gehört nur mir!“

Dieses Tier ist nun Renates neues Glück, das sie für zweihundert Euro erstanden hat. Jeden Tag streichelt sie Jonathan, wie sie ihn nennt. Wenn ihre Gedanken bei ihm weilen, sie ihn liebkost, ist sie entrückt der rauen Wirklichkeit, die nicht immer schön für sie war und ist.

Hinterher in einem Telefongespräch lachten wir herzlich. Wir können uns denken, dass viele Menschen uns, die wir in diese Fantasiewelt entfliehen dürfen, für verrückt halten. Wir stellen uns vor, dass beim Transport des Stofftieres einige Mitmenschen sicher dachten, die Frau spinnt und Überlegungen anstellten, ob sie die Polizei rufen sollen.

Ich wünsche meiner Freundin Renate, sie möge oft in ihre Welt des Glücks entfliehen dürfen, denn auch ich besitze eine solche ‚Nische’, in die ich ab und zu flüchte und aus der ich hinterher mit neuer Kraft und sehr glücklich wieder auftauchen darf.

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Themen > Leben > Literatur > Kurzgeschichten > Esel