Kapitel 1
An diesem Dienstag ritt sie besonders früh aus. Sie wollte die Sonne über den Feldern der Wetterau aufgehen sehen, den frischen Duft der Wiesen, das morgendliche Zwitschern der Vögel genießen. Ihr Weg führte sie durch jungen grünen Laubwald, zwischen den Bäumen immer wieder ein Blick auf benachbarte Koppeln mit grasenden Pferden, auf strahlend gelbe Rapsfelder, auf den Gutshof mit seinem stattlichen Hauptgebäude und den vielen Stallungen. Nach Westen der Taunus, den sie im Sonnenuntergang besonders liebte. An Wegrändern und Böschungen streckten sich ihr die gelben sonnenähnlichen, nach Honig duftenden Blütenköpfe des wild blühenden Huflattichs entgegen. Auf dem Waldboden wuchs der Waldsauerklee mit seinen zarten blassrosafarbenen Blüten. Wohin sie auch schaute, überall gab es Schönes zu entdecken. Nur das riesige Gebäude eines Handelskonzerns störte mit seiner monströsen rostrotenHässlichkeit die natürliche Harmonie der Landschaft.
Dieser Reiterhof war ein Volltreffer, nur eine halbe Autostunde von ihrer Wohnung in Frankfurt entfernt.Vor etwa einem halben Jahr war Katrin beim Surfen im Internet in einem Reiterforum gelandet und hatte sich köstlich amüsiert über die schwärmerischen Beiträge der offensichtlich noch sehr jugendlichen Reiterinnen. Eine hatte zig Fotos von ihrem Fjordpferd eingestellt und dazu eine rührende Geschichte erzählt, wie sie zu ihrem Pony gekommen war.
Katrin las, schaute immer weiter und erfreute sich an den Fotos, weil sie - wie dieses Mädchen im Forum – auchein Fjordpferd besaß. Vor allem die Umgebung gefiel ihr, und dann stieß sie auf den Namen des Reiterhofs: Strassheimer Hof in Rosbach.
Was sie sah und las, weckte ihr Interesse.
Mit ihrem Reiterhof in Frankfurt war sie mehr als unzufrieden. Zu teuer, zu steril, zu viele feine Pinkel, die auf sie mit ihrem kleinen Fjordpferd nur mitleidig herabsahen.
Also machte sie sich an ihrem nächsten freien Tag auf den Weg nach Rosbach und schaute sich das Hofgut an. Die Besitzerin der Anlage war ihr auf Anhieb sympathisch.
Alles war genau so, wie sie es sich für sich und ihr Pferd schon lange gewünscht hatte: Ein traumhaft schönes Ausreitgelände, jede Menge Boxen und Offenstallplätze, eine große Reithalle und noch eine kleine zum Longieren, ein Reitplatz, eine riesige Sommerweide und Winterpaddocks mit Hütte - wie geschaffen für ihren vierbeinigen Freund.
Und es gab keine Vereinsmitgliedschaft, keinen Schulbetrieb, keine arroganten Edelpferdebesitzersnobs.
Am allerschönsten aber war, dass es hier noch mehr Fjordis gab und auch noch andere Kleinpferde. Niemand würde auf sie herabsehen und dumme Bemerkungen machen.
Katrin wollte täglich nach ihrer Arbeit in der Bank nach Rosbach fahren und ihren Ole so oft es ging selber versorgen. Das wirkte sich auch günstig auf den monatlichen Einstellpreis aus.
Ja, sie hatte ein teures Hobby. Aber ein wunderschönes.
Sie flog eben nicht nach Mallorca oder Antalya, und sie kaufte sich keine teuren Klamotten, sondern schaute sich in Frankfurter Secondhandshops um.Dafür bekam ihr Ole das beste Futter und optimale Pflege.
Heute war ihr zweiter Urlaubstag. Sie genoss es, eine ganze Woche Zeit für ihr Pferd zu haben. Gestern hatte sie mit viel Liebe und Mühe seine Stehmähne geschnitten und eine neue „Frisur“ ausprobiert, den Drachenschnitt. Sie hatte das weiße Mähnenhaar in Zacken geschnitten, sodass das innere schwarze Mähnenhaar einen interessanten Kontrast bildete. Wie ein Punk sah ihr Ole jetzt aus.
Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, ein anderes Pferd besitzen oder ihren Ole gar verkaufen zu wollen. Ole und sie waren ein einzigartiges Team.
Katrin liebte sein ruhiges, freundliches Wesen. Er war genauso wie ein Fjordpferd sein sollte: Zuverlässig, umgänglich, genügsam, unkompliziert – für den Wanderritt geeignet und auch für den Turniersport. Aber Turniere interessierten sie nicht besonders, am liebsten ritt sie allein mit ihm durch die herrliche Landschaft – so wie jetzt.
Sie lenkte ihr Pferd auf den Rückweg und erreichte schließlich den Reiterhof. Sie stieg ab, nahm den Sattel herunter, holte sich etwas Stroh und rieb Ole trocken, kratzte die Hufe aus und belohnte ihn mit einer Mohrrübe.
Dann führte sie ihn am Halfter zur Koppel, schmuste und redete mit ihm: „Ja, mein Dicker, jetzt kannst du dich ausruhn. Du hast es verdient.“ Sie streichelte und klopfte liebevoll seinen Hals.
Plötzlich stockte Ole, blieb abrupt stehen und weigerte sich weiterzugehen.
„He,komm schon, Ole! Das hast du doch noch nie gemacht! Was ist los mit dir?“
Katrin zog ihn am Halfter, gab ihm einen aufmunternden Klaps aufs Hinterteil, schob ihn mit aller Kraft vorwärts. Vergeblich. Ole blieb stehen und schnaubte aufgeregt.
Und dann sah sie es. Da lag jemand. Ein Mann. Vielleicht ein Obdachloser, der hier seinen Rausch ausschlief?
„Kann ich Ihnen helfen?“
Keine Antwort.
„Hallo! So stehen Sie doch auf!“
Keine Reaktion.
Der Mann lag auf dem Bauch. Katrin beugte sich zu ihm herunter und tippte ihm auf die Schulter. Nichts.
„Das gibt’s doch nicht. Der Mann muss doch zu wecken sein.“ Sie schüttelte ihn. Vergeblich. Sie versuchte, ihn auf die Seite zu drehen.
Ein gellender Schrei.
Sie ließ das Halfter los, ließ Ole stehen, rannte kopflos zum Gutshaus.
„Hannah! Hannah! Da liegt ein Toter! Ruf die Polizei!“
Erschienen ist "Tod in der Wetterau" im Verlag UniScripta
ISBN-Nummer: 978-3942728072
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